Die Füße sind schwarz vor Dreck. Sie sind das Erste, was das Kind sieht, als es auf den Dachboden steigt – dann den Schlafsack eines Mannes, ein ausgemergeltes Gesicht, durchdringende Augen. Der Mann schickt das Mädchen weg. Erst Jahre später erfährt es vom Vater, er habe im Haus damals jemanden von der Roten Armee Fraktion versteckt. Und Jahrzehnte später, dass es sich um Christian Klar handelte, den berühmten RAF-Terroristen.
Es erstaunt also nicht wirklich, wenn Zoë Jenny folgert: „Etwas Bedrohliches, Beängstigendes lag über diesen Jahren meiner Kindheit.“ Die Schweizer Schriftstellerin erzählt in ihrer autobiografischen Skizze „Friendly Fire“ überhaupt von einer komplizierten Familie und Kindheit: als „Kommunenkind“, dessen Eltern sich früh trennten. Mit einem als Verleger und Autor kreativ irrlichternden Vater, der „ein sicheres Gespür für Dichter am Abgrund“ hatte. Und dessen politische Sympathien auch in entsprechende Aktivitäten mündeten.

Was bedeutet Familie? Die Münchner Buchzeitschrift „Krachkultur“ versucht das in ihrer neuen Ausgabe zu ergründen – und öffnet sich dabei wie stets den verschiedensten Perspektiven. Immer wieder ziehen die Autorinnen und Autoren dabei auch Verbindungen zum Schreiben: Wer unter seiner Familie leidet, so erfährt man etwa von Zoë Jenny, sucht eine Zuflucht. Für sie selbst heißt das: „Ich nehme einen Stift und schreibe. Buchstabe für Buchstabe. Jeder Buchstabe ist mein Soldat und das Alphabet meine Armee.“ Das Mädchen ist sieben Jahre alt, als es sein erstes Gedicht für den Vater auf den Küchentisch legt. Der Titel lautet: „Angst“.
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Der berühmte Satz, mit dem Leo Tolstoi seinen Roman „Anna Karenina“ beginnen lässt, wird in diesem Band der „Krachkultur“ zwar nicht zitiert. Aber er schwingt mit. Zum Beispiel in einem Text von Jutta Reichelt, der von großer Gefühlskälte der Eltern gegenüber ihren Kindern zeugt. Oder bei Julo Drescowitz, der die unterdrückte Wut auf einen launenhaften Vater verarbeitet. Ein großes Unglück kann es aber auch bedeuten, ganz ohne Familie leben zu müssen: Dea Geršaks Romanauszug „Diamantpark“ ist ein Dokument der Einsamkeit.
Überhaupt sind immer wieder Verluste zu betrauern, beim Tod der Großeltern etwa, deren Wohnung die Hinterbliebenen ausräumen. „Was bleibt vom Menschen übrig, wenn er nicht mehr da ist“, fragt sich etwa die in Berlin lebende Autorin und Fotografin Sara Klatt, die in ihrem Fotobuch „Lenhartzstraße 8“ einzelne Gegenstände aus dem Nachlass der Großeltern dokumentiert hat. Wer war der Großvater? „Ein wieder eingewanderter Auswanderer. Ein eigensinniger Jude.“ Ein Mann, der jeden Morgen Matzen-Brot frühstückte, nicht nur beim Pessach-Fest, und der ein Bild aus Jerusalem aufgehängt hatte: „Da ist dieses andere Land, überall in der deutschen Wohnung. Da ist noch eine Vergangenheit, in der ich nicht vorkomme.“
Spannend wird es in diesem Band auch immer da, wo die Erwartungen an Familiengeschichten getäuscht werden. „Ich hatte eine Tante, die ließ sich beim Zahnarzt die Zunge ziehen“, mit diesem Schockeffekt beginnt der immer wieder ins Surreale gleitende Text „Tantenland“ von K-Ming Chang. Die taiwanisch-amerikanische Schriftstellerin erzählt anhand von allerlei Tanten letztlich von den verzweifelten Versuchen von Einwanderern, sich in Amerika anzupassen – beängstigend aktuell.
Sool Park wiederum, Autor und Übersetzer aus dem Koreanischen, schreibt von einem Onkel, der zum Tier wird: „Ich denke, jede Familie hat einen Onkel, der ein Tier, ein Geist, oder ein Geisteskranker ist. Ohne einen solchen Onkel ist Familie nicht Familie.“ Schnell wird klar, dass es düstere Gründe für solche Tierwerdungen gibt: „Onkel Gierschlund“ etwa, wie er im Text heißt, fängt nach Haft und Folter im Jahr 1937 an, buchstäblich Wörterbücher zu fressen. Er versucht, sich Werke einzuverleiben, die von der japanischen Kolonialverwaltung verboten wurden – und damit uraltes Wissen zu bewahren, das verloren zu gehen droht.

Dass sich, noch radikaler, die Sprache als eigentliches Zuhause eines Menschen deuten lässt, zeigen zwei Texte von Garielle Lutz. Wer zunächst den eigenwilligen, gewaltgetränkten Text „Junge“ gelesen hat, bekommt danach die Erklärung in einem Essay geliefert, den man als Herzstück des Bandes bezeichnen könnte: Es ist erschütternd zu lesen, wie die US-amerikanische Autorin in einer Umgebung der Sprachlosigkeit aufwuchs und schließlich mühsam zu ihrer eigenen Sprache und schließlich Poetik fand.
Die Wörter, schreibt sie in ihrem Essay „Der Satz ist ein einsamer Ort“ zum Beispiel, müssten einander in einem Satz „sowohl körperlich als auch klanglich in gewisser Weise ähneln“. Zwischen den Wörtern müsse „eine Vertrautheit herrschen, eine Gemeinschaftlichkeit“. Nähe, die in der Wirklichkeit nicht zu finden ist, soll also die Literatur erzeugen. Dieses Gefühl von Gemeinschaft. Familie.
Krachkultur: Familie, Band 24/2025, 207 Seiten, 18 Euro.