In der demokratischen Gartenlaube: Die falsche Politisisierung Thomas Manns

Thomas Mann in seiner Münchener Wohnung vor einem Grammofon, 1932. Bild: Zentralbild-Archiv; Bundesarchiv Bild 183-R15883.

Ein verplätschertes Jubiläum: 150 Jahre Thomas Mann – der bedeutendste deutsche Autor bleibt eine Zumutung. Essay. (Leserdebatte)

Fürchtet euch nicht! Was ihr seht geht vorüber. Glaubt nicht, was der Augenschein lehren möchte: es sei zu Ende in der Welt mit Recht, Wahrheit, Menschenverstand und allem höheren Streben...

Thomas Mann, "An die gesittete Welt" (1938)

Wo ich bin, ist Deutschland.

Thomas Mann am 21. Februar 1938, dem Tag seiner Ankunft in den USA

Und da wundert ihr Deutschen euch, entrüstet euch sogar darüber, daß die zivilisierte Welt beratschlagt, mit welchen Erziehungsmethoden aus den deutschen Generationen, deren Gehirne vom Nationalsozialismus geformt sind, aus moralisch völlig begrifflosen und mißgebildeten Killern also, Menschen zu machen sind?

Thomas Mann, Radioansprache vom 27. September 1942

"Lieber Thomas Mann als Bertolt Brecht" lese er, so eines der ersten Zitate, die man vom neuen Kulturstaatsminister Wolfram Weimer nach seiner Ernennung hören konnte. Postwendend wurde es von interessierten Kreisen gegen den Frischberufenen gewendet.

Und mit diesem Move war auch gleich das ödeste aller Thomas-Mann-Klischees wieder da, das vom Großbürger und Ästheten, vom Unpolitischen, der sich anstatt an Weltrevolution und Arbeiterbildung zu arbeiten, in seinen Tagebüchern narzisstisch über Einzelheiten seines Stuhlgangs, des Medikamentenkonsums und der eigenen Masturbationsgepflogenheiten ergeht.

Thomas Mann als rhetorisches Zeichen

Thomas Mann war hier, wenn auch passgenau vor seinem 150. Geburtstag, erst mal nur ein Codewort im öffentlichen Diskurs, ein Zeichen, um den neuen Kulturstaatsminister zu markieren: Unbedingt rechts von der Mitte und irgendwie in der Vergangenheit angesiedelt; ein unklarer Demokrat, reichlich spät von dieser doch selbstverständlich besten aller denkbaren Staatsformen überzeugt, allenfalls Vernunftrepublikaner und mit fortdauernden Neigungen zum politischen Allotria.

Die Rechten und die Ignoranten

Das war zwar bestenfalls halbrichtig und überdies schrecklich unhistorisch, fügte sich aber vermeintlich ganz gut zur scheinbaren Wiederentdeckung und Vereinnahmung Thomas Manns in konservativen Kreisen und den Milieus der Neuen Rechten.

In diesen Kreisen, bei Rechtsradikalen und Rechtsextremisten, liebt man vor allem Thomas Manns Frühwerk: Die scheinbare Beschwörung alteuropäischer Bürgerlichkeit in den "Buddenbrooks" (1901); Volkstümlichkeit und Idyllen von "Königliche Hoheit" (1908) und vor allem die politische Essayistik rund um die "Ideen von 1914", die Thesen über den dauerhaften Hass Europas gegen Deutschland in "Friedrich und die große Koalition" (1915) und am allermeisten die "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918), die noch bis in die Gegenwart der Schlüsseltext für die Thomas-Mann-Rezeption der Neuen Rechten ist.

Diese "Betrachtungen eines Unpolitischen" sind in rechten Kreisen so populär, weil hier die deutliche Ablehnung einer zivilisierten demokratischen Öffentlichkeit, des Parlamentarismus und eine grundsätzliche antiliberale Haltung artikuliert wird.

Mann stellte "Geist" und "Politik", "Kultur" und "Zivilisation", "Seele" und "Gesellschaft", "Freiheit" und "Wahlrecht" einander gegenüber und baut aus diesen Gegensatzpaaren das ideologische Gebäude eines bürgerlichen Deutschland, das sich von dem der Aufklärung Westeuropas essenziell unterscheidet.

"Konvertiten wissen, wovon sie sprechen"

(…) ein Buch neurotischen Hasses und egozentrischer Verbitterung ... gegen Politik und Fortschritt, Aufklärung und Vernunft, "Zivilisationsliteratentum" und Demokratie. Was daran so beunruhigt, sind aber nicht eigentlich der reaktionäre Konservatismus, die Verklärung der Innerlichkeit, die nationalistische Selbstüberhebung. Sondern die gewollte Unkenntnis des Gegners, die neurotische Atmosphäre, die ressentimentgeladene Irrationalität.

Hanjo Kesting, 1975

Mit diesem Buch kann man Thomas Mann leicht als geistigen Vorläufer konservativer – sogar völkischer – Politik darstellen. Bewusst ausgeblendet wird in dieser selektiven Lesart allerdings zugleich, dass sich Mann wenige Jahre später schon – in seinen Texten "Von deutscher Republik" (1922) und dann dem "Appell an die Vernunft" ("Deutsche Ansprache") – vehement gegen Nationalsozialismus und Totalitarismus stellt und jede Form von Rechtsextremismus anklagt.

Thomas Sparr, Autor von "Zauberberge. Ein Jahrhundertroman aus Davos" und Cheflektor bei Suhrkamp, wird in der führenden spanischen Tageszeitung El Pais jetzt mit einer bemerkenswerten Einschätzung der "Betrachtungen..." und Thomas Manns Denkweg seit 1918 zitiert.

Er war ein Konvertit, und Konvertiten wissen, wovon sie sprechen. Er kannte die Gefahr des Nationalismus, war selbst Teil davon – und hat widerstanden.

Politisierung oder nicht, das ist die Frage

Im liberal-konservativen Cicero heißt es zum Mann-Jubiläum: "Bei Thomas Mann ist alles Politik". Eine gewagte Behauptung.

"Kurios, kurios" hätte der deutsche Großschriftsteller dazu selbst bemerkt.

Ausgerechnet diejenigen politischen Kreise, die mit guten Argumenten gerne die Politisierung von allem und jedem beklagen, und in Sonntagsreden Sphären jenseits des Politischen einfordern, die politisieren nun auf Teufel komm raus einen Autor, der genau jene Sphären immer verteidigt hatte, und der gezeigt hatte, dass es vieles gibt, was jenseits des Politischen möglich ist und möglich sein sollte – freilich ohne damit die Politik zu verraten und ihr nicht auch ihr recht zu geben.

In der liberalbürgerlichen Gartenlaube Die Zeit schreibt vorsichtshalber kein Redakteur, sondern wieder einmal Daniel Kehlmann, der offenbar von allem zu viel versteht. Es gibt genau genommen keine stinklangweiligere Entscheidung, als diese, die die Tante Zeit getroffen hat. Man hätte ja mal Maxim Biller und Rainald Goetz, Laura Laabs und Nele Polatschek fragen können, was ihnen Thomas Mann bedeutet.

Schwul oder bi? Wo ist denn überhaupt das Problem?

Kehlmann nun lobt Tilmann Lahmes Biographie, weil sie "einen völlig neuen Blick auf Leben und Werk" biete. Dabei konzentriert sich Lahme vor allem auf Thomas Manns Sexualität, die er nicht Bisexualität, und nicht Homoerotik, sondern Homosexualität genannt haben will.

Für Lahme ... ist sie nicht die wichtige Nebensache, als die sie oft dargestellt wurde, sondern sowohl das tragische Lebenszentrum Manns wie auch das bestimmende Prinzip seiner Werke.

Nur im Fall Katja Manns wagt Kehlmann den Einspruch: "So jedenfalls beschreibt es Lahme, dessen Urteilsentschiedenheit über diese Ehe man doch leise bezweifeln mag" – der wäre aber auch bei anderen Thesen Lahmes vielleicht nötig gewesen.

Was ist denn so schlimm daran, wenn Thomas Mann ein bisexueller Mensch gewesen sein sollte? Was ist so schlimm daran, dass Thomas Mann die Bürgerlichkeit gewählt hat, das Nichtausleben bestimmter Seiten seiner selbst und nicht das Leben eines Bohemiens in schwuler Subkultur? Wo ist denn überhaupt das Problem?, könnte man Tillmann Lahme fragen.

Deutsche Hörer! Brüder Hitlers, and all that

Der beliebteste Jubiläums-Thomas-Mann ist der BBC-Reden. Also seiner insgesamt 59 Radioansprachen, die er zwischen 1940 und 1945 für das BBC-Radio an die Deutschen hielt. Diese Reden sind großartig, das ist gar keine Frage.

Sie sind klar und engagiert, sie sind mutig, sie erziehen das Publikum, ohne es zu bevormunden, sie sind entschieden und unmissverständlich. Sie bringen vieles politisch Wichtige in zeitlosen Formulierungen auf den Punkt.

Zu diesen Reden hinzurechnen darf man getrost noch einige andere zentrale öffentliche Wortmeldungen während des Exils zur Politik, Kultur- und Geistesgeschichte Deutschlands. Also etwa die Rede "An die gesittete Welt", der Essay "Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung", und mehr als alles andere "Bruder Hitler":

(…) das alles ist durchaus einmalig, dem Maßstabe nach neu und eindrucksvoll; man kann unmöglich umhin, der Erscheinung eine gewisse angewiderte Bewunderung entgegenzubringen.

Thomas Mann ist hier in seinem Selbstverständnis der politische Schriftsteller, der er immer sein wollte, zugleich aber auch der "Zivilisationsliterat", der er nie sein wollte, also der auf öffentliche Wirkung bedachte, sich den Forderungen des Tages unterordnende, politisch wirkende öffentliche Intellektuelle – ohne Frage in der Tradition des bewunderten Heinrich Heine, aber auch ohne Frage sich durch das politisch Notwendige vom noch Notwendigeren, der Kunst abhalten lassend.

Er geht hier einen Kompromiss ein, auch sprachlich: Mann versucht, verständlich zu sein, die Komplexität seiner Sprache zu reduzieren. So kommt er denn auch bei der heutigen bildungsfernen deutschen Gesellschaft an: als Autor des Eindeutigen, als Aktivist und Antifaschist. Beides war Thomas Mann ohne Frage, aber er war eben viel mehr als das.

Thomas Mann war ein Meister der Ambivalenzen, der Vermischung von Bürgertum und Bohème.

"Ich habe nichts gegen die Lehre einzuwenden, dass alles seinen Preis hat"

Wenn man Thomas Manns politisches Denken schon auf die Gegenwart münzen will, dann ist es nicht damit getan, ihn zum Stichwortgeber für AfD-Kritik herunterzustutzen. Dann muss man nämlich Manns bitteren Kommentar zum alliierten Bombenkrieg – "Ich denke an Coventry, und habe nichts gegen die Lehre einzuwenden, dass alles seinen Preis hat" – auch auf Israels militärische Verteidigung gegen den arabischen Kriegsterror beziehen.

Trotzdem machen ihn allzu viele der gut gemeinten Jubiläumstexte jetzt zu eben nicht mehr, als zu diesem 08/15-Aktivisten und netten Antifaschisten.

"Vom Reaktionär zum Antifaschisten" – dieser Lebensweg ist Dirk Knipphals in der taz, wichtig, nicht dagegen die womöglich viel interessantere und fruchtbarere Frage, wie nämlich das eine mit dem anderen zusammenhängt?

Wie viel Reaktionär noch im Antifaschisten der späten Jahre, und wie viel Antifaschismus schon im Reaktionär der frühen vorkam? Knipphals' Überschrift insinuiert aber die klare Trennung, den Lernprozess, die Läuterung, die Modernisierung und Demokratisierung eines Bürgers aus dem 19. Jahrhundert zu einem nivellierten Mittelständler der 1950er-Jahre-Bundesrepublik. Mit dem tatsächlichen Thomas Mann hat das alles mitnichten viel zu tun.

Und die viel gelobten BBC-Reden werden dann am Ende doch zu Gebrauchstexten:

Es lohnt sich unbedingt, auch heute noch tiefer in diese Radioansprachen einzusteigen. Man wird viele Argumente finden, die sich auch in der gegenwärtigen Lage mit einer erstarkten AfD gut verwenden lassen.

Dirk Knipphals, taz

Sie empfiehlt Knipphals dann noch "statt den 'Tod in Venedig'" für den Unterricht in der Schule, um "von ihnen ausgehend über deutsche Geschichte und heutige Politik zu reden".

Ach ja, Romane hat der Mann auch noch geschrieben

Doch ist ja wohl die Erinnerung an den Umstand noch erlaubt, daß es von Homer und Wolfram von Eschenbach und Shakespeare und Goethe bis zu Hofmannsthal und Proust die soziale Frage nicht war, die dem Dichter auf den Nägeln brannte, und daß man sie besser wohl nicht zum einzigen oder wichtigsten Indikator für seine Bedeutung, seine Größe macht.

Peter Wapnewski, "Der Spiegel"; 26.05.1975, zum 100. Geburtstag Thomas Manns

Thomas Mann ist nicht Instagram-tauglich; er hat auch keine Facebook-Seite und man kann auch nicht einen so schönen TikTok-Kanal für ihn basteln, wie für Anne Frank – obwohl.... wenn man sich mal die Mühe machte, seine Tagebücher nicht gleich durchzulesen, aber in ihnen zu blättern, dann könnte man das finden, was der Fischer Verlag zu seinem schönen Bändchen "Mit Thomas Mann durch das Jahr" zusammenkompiliert hat:

"Seidene Unterhose. 10 Uhr auf. Kaffee gefrühstückt." (20. März 1939); "Gehobenere Stimmung, Gott weiß, warum." (4. Januar 1948); "Völlig unfähig zu arbeiten." (9. Oktober 1954) und dergleichen.

In unseren durchpolitisierten Zeiten scheint Thomas Mann erst mal gut verwendbar zu sein, aber er sträubt und sperrt sich dann doch und man findet in seinen Texten immer irgendetwas, das einem nicht gefällt und dann wieder etwas, was man in die nächste Sonntagsrede einbauen kann:

Warum muss immer der deutsche Freiheitsdrang auf innere Unfreiheit hinauslaufen? Warum muss der endlich gar zum Attentat auf die Freiheit aller anderen, auf die Freiheit selbst werden?

Dann aber wieder werden solche großen Worte im Jubiläumsfleischwolf vermanscht und verhunzt zur plumpsten Spießigkeit demokratischer Schrebergärtner: "Der Kämpfer für Demokratie"; "Ein Demokrat und Weckrufer"; "Der Mann der nicht lieben konnte."; "Der Schriftsteller mit Migrationshintergrund"; Ach, Europa!

Alles Klischees, plumpster Zeitgeist, der über diesen Autor ergossen wird.

Die Romane dagegen werden gar nicht oder nur am Rand erwähnt. Gerade, dass mal die Titel genannt sind.

Ein Erbe des deutschen Irrationalismus

Thomas Mann war Schriftsteller und Künstler, nicht verkappter Politikkommentator. Und so wie man vor 50 Jahren vielleicht deutlich machen musste, dass er kein unpolitischer, über den Wolken der Wirklichkeit im Elfenbeinturm lebender Großbürger war, so muss man heute klarmachen, dass Thomas Mann auch kein netter Opi ist, der seine Enkel auf die Anti-Nazi-Demo vorm Reichstag begleitet, und eine wöchentliche Kolumne in der "Frankfurter Rundschau" schreibt.

Letztendlich stimmt Hanjo Kestings 50 Jahre alte Feststellung:

Als politischer Mensch war Thomas Mann ein Erbe des deutschen Irrationalismus. Er hat ihn nie wirklich überwunden. Politik war für ihn eine Funktion des Überbaus, der Kunst. er analysierte sie nicht mit politischen, sondern mit ästhetischen Kategorien.

Weil solche Wortmeldungen und Mann-Debatten gerade fehlen, weil sich alle einig über den politischen Thomas-Mann sind und über die Romane nicht gestritten wird, weil die sowieso keiner mehr gelesen hat, ist dies ein verplätschertes Jubiläum.

Wenn man es mit dem von Kafka im vorigen Jahr vergleicht – obwohl man mit gutem Recht streiten kann, ob Kafka nicht weitaus uninteressanter und unzeitgemäßer ist.

Aber Thomas Mann ist anstrengender, weniger modisch, eine Zumutung.

"Ein innerlich kindischer, anrüchiger Scharlatan"

Das hat er selbst am besten gewusst:

(...) die meine Schriften durchblättert haben, werden sicher erinnern, dass ich der Lebensform des Künstlers, des Dichters stets mit dem äußersten Misstrauen gegenüberstand. In der Tat wird mein Erstaunen über die Ehren, welche die Gesellschaft dieser Spezies erweist, niemals enden.

Ich weiß, was ein Dichter ist, denn bestätigtermaßen bin ich selber einer. Ein Dichter ist, kurz gesagt, ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan, der nicht einmal sonderliche Verstandesgaben zu besitzen braucht, sondern so langsamen und unscharfen Geistes sein mag, wie ich es immer gewesen bin, – übrigens ein innerlich kindischer, zur Ausschweifung geneigter und in jedem Betrachte anrüchiger Scharlatan, der von der Gesellschaft nichts anderes sollte zu gewärtigen haben – und im Grunde auch nichts anderes gewärtigt - als stille Verachtung.

Tatsache aber ist, daß die Gesellschaft diesem Menschenschlage die Möglichkeit gewährt, es in ihrer Mitte zu Ansehn und höchstem Wohlleben zu bringen. Mir kann es recht sein; ich habe den Nutzen davon. Aber es ist nicht in der Ordnung. Es muß das Laster ermutigen und der Tugend ein Ärgernis sein.

Thomas Mann

Der Künstler lebt in einer eigenen Welt – einer Welt, die von Vorstellungskraft, inneren Bildern und schöpferischer Energie geprägt ist. Für ihn existiert im Gefüge des bürgerlichen Alltags kein Platz, an dem er sich einfügen könnte.

Seine Existenz steht im Kontrast zu den klar umrissenen Normen und Anforderungen der Arbeitswelt, die auf Effizienz, Verwertbarkeit und messbaren Nutzen angelegt sind.

Wer mit der seltenen Gabe ausgestattet ist, authentische Kunstwerke zu erschaffen, trägt zugleich eine schwere Last: Diese schöpferische Fähigkeit grenzt ihn aus, macht ihn zum Fremdkörper innerhalb einer Welt, die auf Funktionalität ausgerichtet ist.

In unserer Gesellschaft existiert für den Künstler, insbesondere für den Schriftsteller, kein vorgezeichneter Weg. Das Schreiben ist kein Lehrberuf. Vielmehr ist es Berufung, die sich dem Schema von Ausbildung und Anstellung entzieht.

Gerade diese Erfahrungen – das Scheitern an der Norm, das Erleben von Unverständnis und Ausgrenzung – scheinen jedoch auch eine wichtige Voraussetzung für die künstlerische Tiefe zu sein, aus der wahre Literatur entsteht. Die Unbrauchbarkeit des Künstlers, seine Außenseiterposition, ist der Grundstein seiner Ausdruckskraft.

Im Beharren auf dieser Einsicht, sich im Weltfernen, Elitären, Distanzierten, im Entschluss nicht kleiden zu wollen, sich nicht zum Opfer zu machen, in der Absage an die Bohème und im Entschluss, den bürgerlichen Normen zu entsprechen und sich trotzdem nicht anzupassen, in seiner grundsätzlichen Unbrauchbarkeit liegt die andauernde Provokation Thomas Manns.

Literaturhinweise:

Thomas Mann: "Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland". Mit einem Vorwort und einem Nachwort von Mely Kiyak. Fischer Verlag, Frankfurt 2025, 272 Seiten

"Mit Thomas Mann durch das Jahr"; hg. von Felix Lindner; Fischer Verlag, Frankfurt 2024, 432 Seiten

"Thomas Manns 150. Geburtstag"; Neue Rundschau 2025/1; hg S. Fischer Verlag; Frankfurt 2025

Kurt Sontheimer: "Thomas Mann als politischer Schriftsteller"; München 1958

Das literarische Werk Thomas Manns erscheint in vielfältigen Ausgaben im Fischer Verlag.