Auf den Tag genau zwanzig Jahre nach der Befreiung Deutschlands und Europas vom Nationalsozialismus, am 8. Mai 1965, versammelten sich auf dem Gelände des einstigen Konzentrationslagers in Dachau noch einmal zahlreiche Überlebende – allerdings nicht mehr als Häftlinge. Gemeinsam mit Vertretern aus Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften aus mehreren Ländern legten sie an diesem Tag im Rahmen einer Gedenkfeier den Grundstein für ein internationales, in Deutschland einzigartiges Projekt: die Versöhnungskirche als Ort der Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus – und an die eigene Schuld des deutschen Protestantismus im NS-Staat. Das historische Datum und insbesondere auch der Standort der Kirche im nördlichen Teil des Geländes seien damals „ganz bewusst“ gewählt worden, sagt der heute dort zuständige Pfarrer, Björn Mensing: „Nur wenige Meter von hier entfernt standen die Häftlingsbaracken, in denen so viele zu Tode gemartert wurden.“
Als „Andeutung einer Zuflucht“ bezeichnete der erste Geistliche der Versöhnungskirche Christian Reger das sakrale Bauwerk, das bis zum Frühjahr 1967 in Dachau entstand. Vergangenen Donnerstag jährte sich die Grundsteinlegung zum 60. Mal; bei einem Gottesdienst mit anschließendem Empfang internationaler Repräsentanten aus Politik, Gesellschaft und Religion sowie Angehöriger von Nazi-Verfolgten und Zeitzeugen, wurden am darauffolgenden Sonntag in der Versöhnungskirche die beiden historischen Daten gewürdigt. Es sprachen unter anderem Hubertus von Pilgrim, der das Wandrelief an der Zugangsmauer schuf; ebenso Pieter Dietz de Loos als ehemaliger Präsident des Internationalen Dachau-Komitees und Sohn des Bau-Initiators Dirk de Loos sowie Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG). Die Pfarrer Edwin Pech und Marieke Fernhout vertraten bei der Veranstaltung ihre Kirchen aus Polen und den Niederlanden; eine Predigt hielt der Weltkirchenrats-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.
„Ihre Stimmen sind in diesen Mauern und in der Luft“
Bis heute ist die Versöhnungskirche in Dachau das einzige evangelische Gotteshaus, welches innerhalb einer KZ-Gedenkstätte errichtet wurde – sie sei dementsprechend kein Ort musealer oder liturgischer Ruhe, sondern vielmehr als raumgewordene Klage zu verstehen, ermahnt in ihrer Rede Gabriele Hoerschelmann, Präsidiumsmitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). „Vergangenes wirkt nach, und das ist hier spürbar“, sagt sie. „Wenn man diesen Ort betritt, wird ganz deutlich, dass es hier schreit. Hier ist Gewalt passiert – insgesamt 41 500 Menschen sind hier gestorben. Ihre Stimmen sind in diesen Mauern und in der Luft.“
Dass auf dem Boden solch unfassbaren Leids und Menschenverachtung eine Kirche entstehen konnte, war kein Selbstverständnis: Noch zwanzig Jahre nach Kriegsende wagte man es kaum, ein eigenes Gotteshaus auf dem Gelände zu errichten, zu tief saß die Scham über das Versagen der Amtskirchen im Nationalsozialismus und ihr weithin unterbliebener Widerspruch gegen das Regime. Auch die Dachauer Bürgerschaft wehrte sich gegen die Idee. So gab es erst die Überlegung, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau einen überkonfessionellen Ort der Meditation zu schaffen. Als sich das Konzept nicht umsetzen ließ, dachte die EKD Anfang der 1960er-Jahre lediglich über ein schlichtes „Sühnekreuz“ in einem Atrium der künftigen KZ-Gedenkstätte nach, die sich zu der Zeit noch in Planung befand.
Allein die Architektur ist ein Statement
Eine Gruppe ehemaliger Dachau-Überlebender, angeleitet vom niederländischen Widerstandskämpfer Dirk de Loos, überzeugte die EKD schließlich mit dem Wunsch nach einem wettergeschützten Ort des Gedenkens und der Begegnung. Dessen Sohn Pieter Dietz de Loos erzählt während des Jubiläums-Empfangs in der Versöhnungskirche, dass ihn sein Vater selbst nach seiner Odyssee durch mehrere NS-Gefängnisse gelehrt habe, nicht die Rache, sondern den Dialog und die „Versöhnung mit den Deutschen“ zu suchen. Die „ernsthaften“ Auseinandersetzungen während der Gründungszeit der Versöhnungskirche – und deren Überwindung – prägten heute ihren „besonderen Charakter“, so Pieter Dietz de Loos.
Den Planungsauftrag erhielt 1964 der junge Architekt Helmut Striffler; er hatte zuvor einen von der EKD ausgelobten Ideenwettbewerb gewonnen. Strifflers Bauwerk gilt als ein Meisterwerk des expressiven Brutalismus. Innen wie außen wirkt es monolithisch, schmucklos und rätselhaft: grauer Sichtbeton, ungewöhnliche Formen statt klassischer Kirchenelemente. Eine breite Freitreppe führt den Besucher nahezu in den Boden hinein. Ihre Form ähnelt zwei offenen Armen – einer zum Hauptgelände des KZ ausgestreckt, der andere in Richtung der katholischen Kapelle sowie der jüdischen Gedenkstätte. Der Innenhof, kahl und rechtwinklig begrenzt wie einst die Kasernenhöfe des KZ, beherbergt mit den Gesprächs- und Gottesdiensträumen die zwei Hauptbereiche der Kirche. Beide kommen völlig ohne rechte Winkel aus – ein bewusster Kontrast zur starren KZ-Architektur der Nationalsozialisten.

„Striffler sagte: Gegen die Geometrie des Grauens gehe ich an; ich muss eine organische Form finden“, erinnert sich der Künstler Hubertus von Pilgrim. Er schuf für die Kirche das Wandrelief am Ende der Zugangstreppe, ein „bescheidener“, aber „integraler“ Anteil, wie er sagt: schemenhaft liegende, entindividualisierte Menschenkörper; sie symbolisieren die Zehntausende ausgelöschten, zum Großteil vergessenen Schicksale. Zur Planung der Versöhnungskirche habe „großer Mut“ dazugehört, so von Pilgrim – Mut, der seiner Meinung nach heutzutage den beiden christlichen Kirchen oft wieder fehle.
Finanziert und getragen wurde der Bau von der EKD und protestantischen Kirchen in den Niederlanden, Polen, der damaligen Tschechoslowakei, Frankreich sowie West- und Ostdeutschland als Zeichen der ökumenischen Verbundenheit. Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf legte im Mai 1965 persönlich den Grundstein; am 30. April 1967 – kurz nach dem 22. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau – wurde die Versöhnungskirche in Anwesenheit zahlreicher ehemaliger Häftlinge und Gäste aus aller Welt feierlich eingeweiht. Die erste Predigt hielt Martin Niemöller, von 1941 an selbst als sogenannter Sonderhäftling im Dachauer Lager interniert.

Befreiung des KZ Dachau vor 80 Jahren :„Jetzt weiß ich, warum wir kämpfen“
Als Truppen der US-Armee das Konzentrationslager Dachau am 29. April 1945 befreiten, trafen sie auf rund 32 000 völlig entkräftete Häftlinge – und auf Berge von Leichen. Ein Rückblick auf historische Stunden zwischen Freude und Verderben.
Nicht nur die Erinnerung, sondern auch die aktuelle politische Lage in Deutschland und der Welt zieht sich als Thema durch nahezu alle Reden bei der Jubiläumsveranstaltung. Dass heute, 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und 60 Jahre nach dem Baubeginn einer Kirche, die das „Nie wieder“ in Beton gegossen hat, mit der AfD eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei im Bundestag vertreten ist, habe er sich in seinen „schlimmsten Träumen nicht vorstellen“ können, sagt etwa Heinrich Bedford-Strohm. „Es ist, als ob sich die Geschichte unaufhörlich wiederholt und der Mensch unbelehrbar bleibt“, ergänzt die niederländische Pfarrerin Marieke Fernhout.
Die Shoa-Überlebende und IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch warnt, der Grundsatz der Menschenwürde sei heute so gefährdet wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Ihr Vater Fritz Neuland vertrat 1965 bereits die jüdische Gemeinde Münchens bei der Grundsteinlegung der Versöhnungskirche – als „Ort der Menschenwürde“ bezeichnet Knobloch das Bauwerk heute. „Menschen brauchen Räume, die einen angemessenen Rahmen bieten, die Geborgenheit und Würde ausstrahlen – und die all das, was mit der Erinnerung an Schmerz und Trauer, der Suche nach Trost und Reflexion verbunden ist, nicht abweisen, sondern aufnehmen.“
Die Kirche bewies sich bereits als ein Ort gelebten Schutzes: 1980 nutzten elf deutsche Sinti, darunter fünf Holocaust-Überlebende, den Kirchenraum für einen Hungerstreik gegen Diskriminierung; 1993 suchten rund 400 geflüchtete Roma aus Ex-Jugoslawien dort zwei Monate lang Zuflucht vor der drohenden Abschiebung. „80 Jahre nach der Befreiung vom NS-Regime möge von diesem Ort die Mahnung zur Menschlichkeit ausgehen. Dieses Land, ja, die Welt hat sie nötiger denn je“, so Knobloch.
Die „universelle Bedeutung“ des Holocausts müsse gerade in dieser Zeit „immer wieder bekräftigt“ werden, betont auch die EKD-Präsidiumsangehörige Gabriele Hoerschelmann: „Vor 60 Jahren wurde dafür hier mit dieser Versöhnungskirche der Grundstein gelegt – sie ist ein bleibender Verständigungsort, weil sie uns über die Grenzen hinweg miteinander in Verbindung bringt. Dass sie, am Ort des Todes, als lebendiger Stein der Versöhnung und dem Leben dient, lässt mich hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.“