Wyk ist eine hübsche, kleine Stadt am Meer. Das ist allerdings nur zur Hälfte wahr; die andere Hälfte der Wahrheit lautet: Wyk ist eine hübsche, kleine Stadt am Watt. Das hat sie beschützt vor dem Betonwahnsinn, vor dem man sich in anderen Seebädern gruseln kann. Zugegeben, es gibt auch auf Föhr ein paar hässliche Bauten, aber sie sprengen nicht gleich sämtliche Dimensionen.
Die kleinen Giebelhäuser in den schmalen Wyker Gassen mit dem Kopfsteinpflaster stehen Traufe an Traufe. Als steinerne Zeugen vergangener Zeiten vermitteln sie Gelassenheit. Ja, ich habe es furchtbar eilig, immer nur ein paar Tage Zeit, effektiver Kurzurlaub ist geplant, Turboerholung, wo kann man hier am besten joggen, rasch noch ein Schnappschuss vorm Hallighorizont für Social Media, und die Restaurantreservierung bitte am besten noch von zu Hause aus, damit dann auch alles klappt und keine Sekunde verschwendet wird… Und die kleinen Häuser sagen: Loot man ween. Immer mit der Ruhe. So ward dat nix. Hier waren schon ganz andere als du.
Die überschaubare Kleinstadt hat mir von Anfang an gefallen. Ich vermute, dass viele Touristen sie heimlich verachten, weil sie meinen, so könnten sie niemals leben. Sie schätzen die engen Gassen, die gedrungenen Häuser mit den Blumen vor den niedrigen Fenstern nur als Kulisse für ihren Urlaub. Dann geben sie sich zwar entzückt, sind aber eigentlich erleichtert, wenn sie in ihre Großstädte zurückkehren dürfen.
Aber diese Straßen und Häuser haben eine Geschichte, die länger zurückreicht als die des Nordseetourismus, der seit Anfang des 19. Jahrhunderts Stadt und Insel verändert hat. Walfänger, Matrosen, Fischer, Kapitäne und Handwerker haben hier gelebt – eigentlich vor allem meist ihre Frauen und Kinder, in steter Sorge um die Männer auf See. Familien, deren Kinder aufs Festland gingen oder nach Amerika auswanderten, weil die Insel so arm war, dass sie nie alle Nachkommen ernähren konnte, haben hier um ihre Existenz gekämpft. Auf diesen Spuren kann man durch die Gassen spazieren und sieht dann mehr als ein Nordseebad.
Ich mag das, weil es den Blick auch dafür öffnet, dass Wyk und die Wyker ein eigenes Leben haben. Als Touristin reise ich zu oft mit großen Ansprüchen herum, alles soll sich gefälligst um mich drehen und funktionieren – dafür sind all die Leute doch hier, oder? Nein, sind sie nicht.
Was ich auch mag, ist, dass Wyk meines Wissens die einzige Gemeinde Deutschlands ist, die einen Susanne-Fischer-Weg aufweisen kann. Dabei sollte der doch wohl in jedem wichtigen Ort vorkommen! Leider ist der Straßenname nicht mir gewidmet, sondern einer wohltätigen Dame gleichen Namens, die den Verkaufserlös aus ihren Grundstücken für die Inneneinrichtung des Wyker Altenheims gespendet hat.
Fiete Föhr heißt Besucher willkommen
Wenn man vom Hafen her in die Stadt kommt, muss man durch einen Flaschenhals, weil ein Fluttor die Stadt sichert. Davor steht die Säule mit den Sturmflutmarken – zur Mahnung, damit wir nicht glauben, es ginge hier immer so ruhig zu wie eben auf der Fähre.
Wer vom Hafen aus statt auf der Straße schon am Strand langgeht, wird vor dem Hafenamt von Fiete Föhr begrüßt. Die hölzerne Statue winkt Besuchern ein herzliches Willkommen zu, mit einem etwas zu steifen rechten Arm. Bei meinem ersten Besuch bin ich erschrocken, weil es für mich aussah, als probe hier ein leicht bekiffter Kapitänsmützenträger mit großen Kulleraugen den Hitlergruß, auch wenn er ihn sympathischerweise nicht richtig hinbekommt. Im Leben ist vieles eine Frage der Perspektive, und meine war wohl etwas schräg.
Früher wuchs an dieser Stelle eine Ulme, aus deren Resten der erste Fiete Föhr geschnitzt wurde. Inzwischen musste er bereits ersetzt werden. Auch Holzmenschen leben nicht ewig.
Das Rathaus und das Nordseehotel lassen wir rechts und links liegen und freuen uns am „Letzten Kaufhaus vor Dagebüll“ von den Stammer-Brüdern. Nach der Ankunft auf Föhr ist es natürlich das erste Kaufhaus nach Dagebüll, aber das steht nicht im Schaufenster.
Da es den Laden der Stammers schon ewig gibt, kann man davon ausgehen, dass das Sortiment den Kundenwünschen angepasst ist. Und das heißt offenbar: Jede Menge Souvenirs werden genauso dringend gebraucht wie ein paar Grundnahrungsmittel, aber die Souvenirs doch erst kurz vor der Abfahrt.
Nach der Ankunft schaue ich immer erst mal nach, ob das „Kaufhaus“ noch da ist. Die Stammers sind so norddeutsch wie die Insel. Kann man mögen, doch, ja, keine Schnacker. Und ihr Laden ist auch kein Schnacker, der brüllt nicht: „Hey, ich bin stylish und schick“, sondern sagt eher etwas wie „Sorry, ich bin hier, hatte aber keine Zeit mehr zum Umziehen“. Das ist sehr norddeutsch; es geht ums Wesentliche.
Mit einem Fischbrötchen auf die Mittelbrücke
Gegenüber residiert der freundliche Eis-Däne im Verein mit dem freundlichen Hotdog-Dänen. Da Föhr auch mal dänisch war, geht das vermutlich in Ordnung, obwohl mich jetzt erst mal eher die Fischbrötchen locken, die es ein paar Meter weiter gibt. Wem diese Auswahl nicht genügt, der fragt vielleicht nach einem McDonald’s-Restaurant. Vermeintlich freundliche Wyker behaupten dann, ja, das gebe es schon, aber in Utersum am anderen Ende der Insel.
Wer darauf hereinfällt, wird feststellen, dass das nicht stimmt. McDonald’s gibt es nicht, noch ein Föhrer Standortvorteil – ebenso wie der Umstand, dass Christian Lindner hier niemals geheiratet hat und es auch in Zukunft nicht tun wird. Wer im Internet nach der Fastfoodkette auf Föhr sucht, landet irgendwann beim MC Föhr, dem Motorradclub, und das klingt ja auch interessant.
Mit dem Fischbrötchen gehe ich dann auf die Mittelbrücke, einen großen Holzsteg über Wasser und Watt. Dort sehe ich den Kindern beim Angeln zu und hoffe dabei, dass sie nichts fangen, damit ich das Meucheln nicht mit ansehen muss, obwohl ich ja andererseits gerade in diesem Augenblick herzhaft in den Matjes beiße und somit unmittelbar vom Fischfang profitiere. Ein wichtiger Punkt in der Inselerholung ist, dass man auf Föhr Widersprüche entspannt aushalten kann wie warme Sonne und kalten Wind, denn schließlich besteht das ganze Leben aus Widersprüchen. Oder nicht? Oder doch?
Ein wichtiger Punkt auf der Mittelbrücke ist, dass ich hier nicht nur auf das Meer, sondern auch auf die Promenade und den Strand sehen kann. Kinder schaukeln selig auf den Wackeltieren mit den Sprungfedern oder spielen im Brunnen vor dem Café „Die Insel“, in dem das Wasser eine Föhr-Silhouette umfließt. Engagierte Beachvolleyballer am Strand zeigen mir, wie wertvoll und gesund Sport ist, wenn man dabei zusieht. Promenierende Paare machen nichts als Promenieren – ob die damit wohl den ganzen Tag verbringen?
Hunde tun Hundedinge, während die Blätter an den neu gesetzten Bäumen, deren Vorgänger vom dänischen König gestiftet wurden, im Wind rauschen. Bilderbuchfamilien trödeln vorbei und lassen die Sehnsucht nach einer eigenen Großfamilie so lange wachsen, bis die Mütter die Kinder anbrüllen und die Väter die Mütter. Die Kinder brüllen sowieso früher oder später.
Möwen an der Spitze der Souvenir-Produktion
Gedankenverloren schaue ich dem Treiben zu, von großer Menschenliebe erfüllt – sie brüllen ja schließlich nicht mich an –, und stelle mich der großen Föhrer Frage: Ob ich nach dem Fischbrötchen wohl noch einen Kuchen bei „Steigleder“ schaffe? Vielleicht schon, wenn ich einmal die Promenade herunterlaufe. Ich tue das jeden Tag mehrmals, wenn ich auf Föhr bin, obwohl ich die Schaufenster der vielen kleinen Läden schon nach dem zweiten Tag auswendig kann. Es ist das Flanieren zwischen Land und Wasser selbst, das vergnügt macht.
Und außerdem kann ich mich jeden Tag wieder fragen, ob ich eine neue Tasche fürs Badezeug, ein Ringelhemd, einen Schal, eine Wetterjacke oder einen aktuellen Roman brauche. Vielleicht gibt es Menschen, die Geschäfte am Weg ignorieren können, aber ich gehöre nicht dazu, jedenfalls im Urlaub nicht. Jeder Laden appelliert nicht nur an meine Kauflust, sondern auch an meine Solidarität: Schließlich will ich nicht schuld daran sein, wenn hier jemand mit einer ambitionierten Idee pleitegeht, dafür identifiziere ich mich zu stark mit der Insel meiner Wahl. Tatsächlich habe ich in Wyk schon schöne Dinge gekauft, die ich eigentlich nicht brauche, aber das ist ein Widerspruch, den ich gut aushalten kann.
Manchmal gibt es auch etwas zu sehen: Eine Möwe raubt einer arglosen Touristin in einer unbedachten Sekunde ein halbes Fischbrötchen direkt aus der Hand, eine andere einem Kind eine Kugel Eis. Möwen sind relativ große räuberische Vögel mit spitzen, harten Schnäbeln, die im richtigen Leben nicht viel gemeinsam haben mit ihren Souvenir-Schwestern, aus Holz geschnitzt, aus Ton geformt und auf Tassen gepinselt als freundliche Wappenvögelchen eines Sommerurlaub-Idylls. Sie klauen alles, was sie kriegen können, und lachen oft gemein dazu.
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Nachdem ich einmal zusehen durfte, wie eine Möwe eine ausgewachsene Strandkrabbe fing und mit dem Schnabel aufhackte, denke ich häufiger an Alfred Hitchcock, als mir lieb ist. Eigentlich ist es ein Rätsel, wie es diese Vogelart an die Spitze der Souvenir-Produktion geschafft hat. Sie mustert ihr Revier streng und wirkt dabei keineswegs niedlich, sie beschädigt die Bausubstanz mit ihren aggressiven Exkrementen, und sie klaut.
Dieses Tier wollen alle auf den Bildern in den Ferienwohnungen sehen, auf den Kaffeetassen, Schlüsselanhängern, Feuerzeugen, „I love Föhr“-Shirts und schließlich noch auf den Socken? Na, ich weiß nicht. Falls man doch so ein Souvenir einpackt, erinnert uns der Vogel täglich daran, dass wir nicht die Herren der Schöpfung sind, sondern bloß die Kellner der Möwen. Aber Wattwurmgeschirr ist auf dem Souvenirmarkt vermutlich keine attraktive Alternative.
Eine Veranstaltungsfläche mitten im Wasser
Leider ist es seit 2022 vorbei mit der alten Mittelbrücke – sie war zu baufällig und wird abgerissen. Ersetzt werden soll sie durch ein Bauwerk monumentalen Ausmaßes – über 150 Meter lang, mit einer kühnen Ecke drin, mündend in einer 1000 Quadratmeter großen Veranstaltungsfläche mitten im Wasser. Wenn man darauf steht, hat man gewiss einen guten Blick auf die Promenade. Leider muss man umgekehrt in Zukunft von der Insel auch auf dieses Monster sehen statt aufs Wasser.
Wegen der großen Coronabremse ging es mit den Bauarbeiten nicht so schnell wie geplant. Der geschätzte Baupreis von knapp zehn Millionen Euro wird zu großen Teilen durch eine Förderung des Landes Schleswig-Holstein finanziert. Wir dürfen uns laut Pressemeldung auf eine „wasserseitig verglaste ‚Meereslounge‘ mit Sonnendeck“ freuen – oder was immer man sonst tut, wenn man so was hört. Immerhin soll die neue Brücke im Gegensatz zur alten barrierefrei sein und gehandicapten Menschen das Baden in der Nordsee ermöglichen. Das würde aber vermutlich auch mit einem weniger aufgeblasenen Bauwerk funktionieren.
Die alte Mittelbrücke hieß früher Dampferbrücke. Sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut, als Dampfer in Wyk anlegen sollten, für die der Hafen nicht geeignet war. Also baute man eine Dampferbrücke vor den Sandwall, mitten vor den Strand. Vielleicht hat sich auch damals schon jemand über den modernen Kram beschwert.
Als 1962 Sand auf den schmalen steinigen Strand von Wyk aufgespült wurde, damit er den Touristen besser gefällt, fand sich die Dampferbrücke plötzlich am Strand wieder und musste verlängert werden, damit die Schiffe sie überhaupt noch anlaufen konnten. Wahrscheinlich wird damals irgendjemand dagegen gewesen sein, auch wenn Bürgerproteste weniger in Mode waren als heute. Und heute geht es ebenfalls nicht ohne Beschwerden ab.
Föhr muss nicht schick und modern sein
Rund um die Promenade wurde ohnehin schon modernisiert. Es gibt jetzt breite Stufen zum Strand hin, auf die man sich setzen kann, aber die Rentner bleiben lieber in den Cafés. Die Große Straße, wichtigste Straße in der Fußgängerzone, wurde 2021 neu gepflastert und am Eingang mit merkwürdigen, meterhohen Leuchtstelen versehen, auf denen seltsame Pflanzenmuster irgendwas vermitteln sollen, nur was? Erst aus der Zeitung habe ich erfahren, dass die Stelen das Biikebrennen symbolisieren, also das Feuer, mit dem in Nordfriesland traditionell das Winterende gefeiert wird.
All die Verschönerung sieht aus wie „Wir haben es versucht, aber modern sind wir nun mal nicht“. Das macht doch nichts!, möchte ich immer rufen. Kein Mensch kommt nach Föhr, weil es hier schick und modern ist. Vielleicht höchstens die Besucher des 2018 erbauten Hotels „Upstalsboom“, aber die müssen ihr Hotelgelände ja gar nicht verlassen, da es dort sowieso alles gibt.
Das Geld, liebes Föhr, kannst du sparen oder vielleicht in ein Upgrade der einen oder anderen Ferienwohnung stecken, deren Möbel aus den 80er-Jahren nicht mehr so recht gefallen. Aber ob es nun unbedingt eine künstliche Insel vorm Sandwall, vor der Visitenkarte Wyks, sein muss?
Der Text ist ein Auszug aus dem jüngst erschienenen Buch „Mein Föhr“ von Susanne Fischer, Mare-Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.