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Picknick am Dez-Stausee: Eine Familie sucht Schatten und ein wenig Privatsphäre

Picknick am Dez-Stausee: Eine Familie sucht Schatten und ein wenig Privatsphäre

Foto: Forough Alaei

Neujahrsfest in Iran Es ist Krieg, und die Leute machen Picknick

Forough Alaei ist eine der wenigen Fotografinnen, die noch in ihrer Heimat Iran dokumentieren, wie sich die Gesellschaft verändert. Beim Nowruz, dem jährlichen Neujahrsfest, überwinden die Menschen kulturelle Gräben.

In der Vergangenheit hätte der hochgewachsene Familienvater mit dem markanten Schnauzbart die Fotografin wohl ignoriert, es vielleicht sogar vermieden, ihr in die Augen zu blicken. Im März 2024 möchte er unbedingt vor ihrer Kamera posieren. »Komm her, komm her«, ruft er und rudert begeistert mit den Armen. Nicht weit von ihm steht seine Ehefrau in langem Gewand und Kopftuch. Beide lassen sich von der jungen Frau aus Teheran fotografieren, vermutlich für Instagram. Sie lächeln stolz. Um sie sammeln sich die zwölf gemeinsamen Kinder.

An die Szene erinnert sich die preisgekrönte Fotografin Forough Alaei wenige Wochen später in einem Videotelefonat mit dem SPIEGEL. »Die Menschen möchten ihr Leben zeigen und anderen davon erzählen. Sie wollen, dass man sie sieht und nicht vergisst«, sagt sie. Die Bilder landeten oft in den sozialen Medien.

Alaei lebt in Teheran, ist eine der wenigen, die geblieben sind und den Alltag der Iranerinnen und Iraner weiterhin fotografisch dokumentieren – nach Jahren der Straßenproteste, der brutalen Verhaftungen und Hinrichtungen und nun auch noch: in Zeiten des Kriegs.

Auszeit auf Iranisch: 15 Stunden fuhr diese Gruppe von Freunden, um am Stausee campen zu können

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Foto: Forough Alaei

Alaeis Bilder vom Protest der iranischen Frauen wurden vor eineinhalb Jahren weltweit bekannt, schon davor gewann sie für ihre Arbeit den World Press Award. Nun will sie zeigen, wie es nach den Unruhen weitergeht.

Zusammen im Grünen: Die Natur lockt auch Iranerinnen und Iraner aus eher konservativeren Familien an, große Politik wird plötzlich unwichtig

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Foto: Forough Alaei

Zum diesjährigen Nowruz-Fest, das Neujahrsfest in Iran, fuhr sie aufs Land, fotografierte Großfamilien und junge Städter, die in den Bergen eine Auszeit suchten – und fing dabei ein, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat. Statt abgeschnittene Zöpfe oder erhobene Fäuste zeigt Alaei Freunde beim Picknick am See. Die Motive wirken idyllisch, fast unangenehm still.

Alaei sagt, sie wisse, was man ihr im Ausland vielleicht bald vorwerfe: dass sie nicht Bilder der Proteste zeige, brennende Barrikaden. »Manche werden vermutlich sagen, dass ich nicht genau hinschaue«, nimmt sie die mögliche Kritik selbst vorweg.

Dabei zeigen die Fotos auf ihre eigene Weise sehr genau, wie die Wirklichkeit im Land aussieht. Der konservative Familienvater mit Fotowunsch ist nur ein Beispiel. Alaei traf ihn in der Nähe des Dez-Stausees im Südwesten des Landes, die Gegend ist ein beliebtes Erholungsziel aufgrund der vielfältigen Natur. Auch in diesem Jahr versammelten sich dort viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Kreisen, obwohl das Regime in Teheran vor ausgelassenen Feiern gewarnt hatte, da das traditionelle Fest diesmal in den islamischen Fastenmonat Ramadan fiel.

Die Feiertage am Stausee sind für viele im Land eine Gelegenheit, dem Alltag zu entfliehen

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Foto: Forough Alaei
Nowruz-Feier mit Shisha-Pfeife

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Foto: Forough Alaei
Manche Iraner nutzten die Feiertage auch, um Ausflüge mit dem Boot zu unternehmen

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Foto: Forough Alaei
Arbeit am Grill: Für die Einheimischen sind die Touristen eine Chance, etwas besser über die Runden zu kommen

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Foto: Forough Alaei
Picknick auf der Heckklappe

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Foto: Forough Alaei

Etliche der Feiernden seien Rückkehrer, sagt die Fotografin. Junge Menschen, die vom Land in die Stadt zogen oder sogar ins Ausland, um Geld zu verdienen. Zurück in ihrer Heimat konfrontieren sie ihre Familien mit neuen Gewohnheiten: Junge Frauen verzichten auch hier jetzt auf das Kopftuch, einige verbrachten das Neujahrsfest auch ganz ohne Verwandtschaft, nur mit Freunden in einem Zelt. »Vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen«, sagt ein Vertrauter Alaeis, der die Gegend ebenfalls gut kennt. »Aber die Generation Z ist so pragmatisch, dass die Eltern sich anpassen müssen.«

Nicht nur Geschlechterregeln, sondern auch kulturelle Unterschiede scheinen inzwischen weniger wichtig. Viele ihrer Aufnahmen seien direkt nebeneinander entstanden, sagt Alaei. Links die Clique von Freunden mit Wasserpfeife, Campingzelt und Hund. Rechts daneben konservative Großfamilien mit gemusterten Decken, Kopftüchern und klarer Ordnung.

Kulturelle Unterschiede scheinen inzwischen weniger wichtig

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Foto: Forough Alaei
Mädchen in den Bergen rund um den Stausee: Auch hier wird auf das Kopftuch verzichtet

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Foto: Forough Alaei

Hier draußen in der Natur zeigt sich offenbar, wie viele Iranerinnen und Iraner ihr Leben gern auch abseits von Nowruz sähen: selbstbestimmt, ausgelassen. Es sind private Momente, die sich jeder Vereinnahmung entziehen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.