Turner Ilia Kovtun :
Europameister im Exil

Von Sandra Schmidt, Rimini
Lesezeit: 3 Min.
Beim ihm sieht alles leicht aus: Illia Kovtun
Wenn der Ukrainer Ilia Kovtun turnt, sieht es mühelos aus. Zu seiner Trainerin hat er eine enge Bindung. In der Männerwelt ist sie eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Ilia Kovtun hat es im Wettkampf nicht mit großen Gesten: keine Fäuste, kein Schreie, kein Winken ins Publikum. So auch dieser Tage bei der Europameisterschaft in Rimini. Kovtun turnt extrem schwierig und ebenso schön, landet am Ende seiner Darbietung in Perfektion, nickt kurz Richtung Kampfgericht und verlässt das Podium. Dabei verzieht er keine Miene.

Am Samstag wurde er Europameister am Reck und am Barren, wo seine aktuelle Übung zwei Zehntel schwieriger ist als jene von Weltmeister Lukas Dauser. Am Sonntag sicherte er der Ukraine mit der letzten Übung am Reck Platz eins im Teamwettbewerb. „Es ist vor den Olympischen Spielen ein schwerer Wettkampf hier für uns“, sagte er, man werde hart weiterarbeiten.

Was Kovtun in Rimini zeigte, sah mühelos aus, obschon der Ukrainer im Vergleich zur Konkurrenz eher ein großer, breiter und schwerer Turner ist. Auf dem Podium wirkt er noch größer und schwerer, weil die Figur neben ihm das genaue Gegenteil ist: schmal, klein und leicht. Irina Gorbacheva ist die absolute Ausnahme, und zwar qua Geschlecht.

Kein Mann der großen Gesten: Der Ukrainer Ilia Kovtun wird Europameister am Reck und am Barren.
Kein Mann der großen Gesten: Der Ukrainer Ilia Kovtun wird Europameister am Reck und am Barren.AFP

Bei internationalen Großveranstaltungen im Männerturnen, sieht man von vereinzelten Physiotherapeutinnen ab, sind nur Männer im Innenraum. Denn Trainer im Männerturnen der Weltspitze sind Männer. Das war immer schon so. Auf die Frage, wie es so ist in dieser Männerwelt und wie akzeptiert sie sich fühlt, antwortet erst mal ihr Turner für sie und erzählt, viele der Männer hätten ihm schon gesagt, dass es sie „total stresst“, wenn Irina am Reck oder Barren während der Übung nahe bei ihm steht.

Grundsätzlich Fotos mit ukrainischer Flagge

Tatsächlich irritiert der Anblick ein wenig, wenn Gorbacheva am Ende von Ilias Übungen auf die Landematte tritt, ist doch offensichtlich, dass sie physisch nicht in der Lage wäre, ihren Turner bei einem Sturz aufzufangen. Aber darum geht es auch nicht. Die Anwesenheit auf der Matte beim Abgang, die laut Reglement erlaubt ist und von vielen Trainern praktiziert wird, ist vielmehr eine psychische Unterstützung. „Natürlich haben da in den ersten Jahren meiner internationalen Auftritte einige Leute Probleme mit gehabt“, sagt Gorbacheva selbst: „Aber mittlerweile schätzen viele der Männer mich und meine Arbeit und unterstützen mich.“

Die Equipe der Ukraine gewinnt den Mannschaftswettbewerb
Die Equipe der Ukraine gewinnt den MannschaftswettbewerbAFP

Mit Ilia Kovtun arbeitet Gorbacheva seit seiner Jugend. Ihr Verhältnis wirkt symbiotisch, so antwortet sie in Rimini meistens an seiner Stelle und formuliert mit Blick auf seine Gesamtverfassung: „Wir haben Probleme mit unserem Fuß, der im letzten Jahr zweimal operiert wurde, aber er gibt sein Bestes.“ Beim russischen Angriff auf die Ukraine vor gut zwei Jahren war Kovtun 18 Jahre alt und gerade mit Gorbacheva beim Weltcupturnier in Cottbus. Seitdem sind die beiden gewissermaßen gemeinsam im Exil. Kovtun hat zuletzt kaum einen Weltcup ausgelassen und ist als Gastturner in der deutschen, der französischen und der italienischen Liga angetreten.

Egal wo er turnt, im Anschluss posten Turner und Trainerin grundsätzlich ein Foto mit einer großen ukrainischen Flagge. Kovtun, der aus Tscherkassy in der Zentralukraine stammt, ist seit Kriegsausbruch nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt. Bei der WM 2022 in Liverpool hatte er – gegen die Regeln des Weltverbandes – beim offiziellen Podiumtraining ein T-Shirt mit dem Aufdruck „No war“ getragen. Eine Bleibe haben sie seit vergangenem Herbst in Kroatien gefunden, wo vor allem der Verein Sokol Osijek sie unterstützt. „Wir werden uns dort auf die Spiele vorbereiten und vor allem für das Team arbeiten“, sagt Gorbacheva.

Denn Ilia Kovtun ist keineswegs der einzige Medaillenkandidat für Paris, wo die Ukraine als eine von zwölf Mannschaften antreten wird. Radomyr Stelmakh trainiert aktuell in Cottbus, zeitweise auch Routinier Igor Radivilov. Nazar Chepurnyi, der in Rimini Bronze am Sprung gewann, trainiert unter Cheftrainer Gennadi Sartynskyi in Kiew. Ebenso Oleg Vernjajew, Olympiasieger am Barren von 2016, dessen vierjährige Dopingsperre zuletzt um ein Jahr verkürzt worden war.

Bei seinem Comeback in Rimini zeigte sich der 30-Jährige in großartiger Form und gewann Silber im Mehrkampf. Auf die Frage, ob er sich an die Situation in Kiew gewöhnt habe, sagt er: „Manchmal kommen wir zum Training, fangen mit der Erwärmung an, und dann ist Luftalarm, und wir müssen die Halle räumen und in Sicherheit.“ Das könne eine halbe Stunde dauern oder fünf Stunden, man wisse es nie. „Wenn Sie das verstehen wollen, dann kommen Sie uns besuchen!“, sagt Vernjajew und lächelt milde. Russische Turner hatte der Europäische Turnverband bis zuletzt konsequent ausgeschlossen, und in Rimini scheinen sie wirklich niemandem zu fehlen.