Die Diskussion in Deutschland habe sozialistische Züge, beklagte der FDP-Vorsitzende: „Es scheint nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet.“ Zu lange sei die Verteilung optimiert und darüber vergessen worden, wo Wohlstand herkommt. Sein Fazit: „Die Missachtung der Mitte hat System, und sie ist brandgefährlich. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“
So schrieb es Guido Westerwelle am 11. Februar 2010 in einem Gastbeitrag für WELT. Später, nachdem die FDP 2013 aus dem Bundestag gewählt worden war, bereute er die spitze Formulierung. Hätte er gewusst, was das Wort Dekadenz auslöse, „hätte ich es gelassen“. Der mittlerweile verstorbene Westerwelle hatte mit dem Text nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV auf die Bedeutung des Lohnabstandsgebots hinweisen wollen: Niemand denke an die Bürger, „die für ihre Arbeit weniger bekommen, als wenn sie Hartz IV bezögen“. Ausgelegt wurde es ihm als mangelnde Empathie für sozial hilfsbedürftige Menschen, die breite Empörung war ein Baustein der damaligen Erosion der Liberalen.
Der amtierende FDP-Chef Christian Lindner war in dieser Zeit Generalsekretär unter Westerwelle, und hat aus der Geschichte gelernt. Hartz IV heißt mittlerweile Bürgergeld, aber auch auf dem Parteitag am Wochenende ging es um das Lohnabstandsgebot. „Wer arbeitet muss spürbar mehr Geld zur Verfügung haben als jemand, der nicht arbeitet“, heißt es im zentralen Beschluss zu einer „Wirtschaftswende“. Lindner griff das Thema in seiner Rede auf – vermied dabei aber sorgsam Redewendungen, die polarisieren könnten.
„Die Mehrheit der Deutschen stimmt uns zu: Ein Schicksalsschlag darf nicht dazu führen, dass Menschen ins Bodenlose fallen“, führte er ein. Aber eine Mehrheit der Deutschen teile auch die Überzeugung, „dass das Bürgergeld eben kein bedingungsloses Grundeinkommen ist, sondern dass eine Gegenleistung zu erwarten ist. Die Gegenleistung für Solidarität ist, sie nur so lange und so weit wie nötig in Anspruch zu nehmen.“ Dass laut Beschluss schärfere Sanktionen eingeführt und auch die Berechnung der Bürgergeldsätze überprüft werden soll, traute sich Lindner schon gar nicht mehr zu erwähnen –Westerwelle lässt grüßen.
„Raus aus der Ampel“? Dafür gibts keinen Beifall
Ähnlich verlief der gesamte Parteitag. Die FDP habe „pragmatisch und sachlich“ ihre wirtschaftspolitischen Forderungen vorgetragen, sagte Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, die von der Abschaffung der Rente mit 63 bis hin zu Steuerentlastungen und der Streichung des Solidaritätszuschlags reichen – und allesamt von den Koalitionspartner in der Ampel, SPD wie Grünen, abgelehnt werden. Djir-Sarai, dessen persönliche Abneigung gegen die Ampel kein Geheimnis ist, behauptete sogar: „Ich schätze unsere Koalitionspartner sehr, das meine ich ernst.“
Kuscheln statt Krawall, das scheint der Kurs der FDP-Strategen vor den Verhandlungen der kommenden Wochen in der Bundesregierung zu sein. Lindner ist dabei klar, dass seine in den Umfragen am parlamentarischen Existenzminimum kratzende Partei zumindest einige ihrer Parteitagsbeschlüsse in der Regierung umsetzen muss, um selbst wieder auf einen Wachstumspfad zu kommen. Sein Druckmittel sind die Haushaltsverhandlungen, in denen die Koalitionspartner Geld vom Finanzminister wollen.
Zusätzliche Drohungen mit einem vorzeitigen Ausstieg aus der Ampel scheinen Lindner dagegen nicht opportun. Entsprechende Andeutungen überließ er seinem Mann fürs Grobe, Parteivize Wolfgang Kubicki. Der warnte SPD und Grüne: „Ich kann nur dringend von hier aus appellieren: Nehmen Sie die Gespräche mit uns auf. Denn wenn nicht gesprochen wird, wird es auch keine Zukunft dieser Koalition geben.“
Darüber hinaus war ein Aufkündigen der an der FDP-Basis unbeliebten Koalition beim Parteitag kein Thema. „Raus aus der Ampel“ war nur von einem Delegierten zu hören – Beifall erhielt er dafür nicht. Selbst beim Thema Atomkraft mag die Partei nicht mehr in den Kampf mit den Ampelpartnern ziehen. Ein Antrag von drei ostdeutschen Landesverbänden mit dem Titel „Kernkraft? Ja, bitte!“ wurde von einer knappen Mehrheit abgelehnt. Künftig wollen sich die Freien Demokraten nur noch für die Zukunftstechnologie Kernfusion und „sichere Technologien der Kernspaltung wie Small Modular Reactors“ einsetzen.
Bis zum Sommer, so fasste FDP-Vize Johannes Vogel den Parteitag zusammen, gebe es nun zwei große Aufgaben: Es müsse einen Entwurf des Kabinetts für den Bundeshaushalt geben und eine entsprechende Vereinbarung für eine Wirtschaftswende. Das Land sei in einem „Agenda-Moment“, und die Regierung müsse „uns alle als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mit einem großen Wurf überraschen“.
Ob die Liberalen SPD und Grünen Zugeständnisse abringen können, sei für die Zukunft der Partei zentral, glaubt der Parteienforscher Uwe Jun von der Universität Trier: „Entscheidend für die FDP wird der Faktor Glaubwürdigkeit sein, wie glaubwürdig kann sie in dieser Koalition noch agieren?“ Ob und wie das letztlich gelingen werde, das sei „die Eine-Million-Euro-Frage“.