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Henrik Müller

Demografische Krise Einsturz der Arbeitswelt

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Was feiern wir eigentlich am 1. Mai? Der „Tag der Arbeit“ droht zu einem Ritual zu erstarren, das mit den realen gesellschaftlichen Herausforderungen wenig zu tun hat. Wir brauchen einen neuen Blick darauf, wie – und wie viel – wir arbeiten.
Feier zum Tag der Arbeit in Brasilien: Die Arbeitswelt ist heute nicht mehr die gleiche wie vor 100 Jahren

Feier zum Tag der Arbeit in Brasilien: Die Arbeitswelt ist heute nicht mehr die gleiche wie vor 100 Jahren

Foto: Andre Penner/ dpa

Als die Tradition entstand, den 1. Mai als „Tag der Arbeit“ zu begehen, waren die Bedingungen für die Werktätigen erbärmlich. Deutsche Arbeitnehmer schafften im Schnitt 3300 Stunden im Jahr. Zwölf-Stunden-Tage waren keine Seltenheit. Es war ein hartes Leben. Die Lebenserwartung lag bei 40 Jahren. So war das um 1870. Von Acht-Stunden-Tagen, Fünf-Tage-Wochen und sechs Wochen bezahltem Jahresurlaub war man damals denkbar weit entfernt.

Im späten 19. Jahrhundert verbesserten sich die Bedingungen allmählich. Bis 1913 sank die jährliche Arbeitszeit in Deutschland um 500 Stunden, während die Löhne stiegen. Andere Länder erlebten eine ähnliche Entwicklung .

Die Industrialisierung entfesselte die Produktivkräfte, und die Gewerkschaften sorgten dafür, dass die Beschäftigten nach und nach einen größeren Anteil daran bekamen. Ursprünglich war der Mai-Feiertag ein Kampftag, an dem gestreikt wurde. Im Lauf der Zeit wandelte er sich zu einem Fest, bei dem sich die Arbeiterbewegung ihrer Stärke selbstvergewisserte – und die Würde der einfachen Leute in den Mittelpunkt stellte.

Die Bedeutung des 1. Mai verschiebt sich weiter. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Mitgliedsorganisationen mögen immer noch zu großen Kundgebungen aufrufen. (Achten Sie Mittwoch auf die zentrale Veranstaltung in Hannover. ) Die Reden klingen immer noch kämpferisch, die Forderungen vertraut („mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“). Aber die Zeiten der großen Mobilisierung sind vorbei. Nach der deutschen Einheit hatten die DGB-Gewerkschaften mehr als zehn Millionen Mitglieder,  heute sind es noch gut die Hälfte, wobei der Rentneranteil bei 20 Prozent liegt. Der Organisationsgrad, also der Anteil der Gewerkschafter an der Zahl aller abhängig Beschäftigten, beträgt nur noch bei 17 Prozent .

Entsprechend ist der Mai-Feiertag nicht mehr allein den Werktätigen gewidmet. Inzwischen ist er ein „Tag des Bekenntnisses zu Freiheit und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Völkerversöhnung und Menschenwürde“, wie es etwa im nordrhein-westfälischen Feiertagsgesetz heißt. Von Arbeit ist kaum noch die Rede. Und das ist symptomatisch.

Ein Land im Dämmerzustand

Arbeit steht immer weniger im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Fast 40 Prozent der Beschäftigten sind teilzeitbeschäftigt, im Schnitt rund 20 Stunden pro Woche . Die Zahl der Ruheständler steigt rapide, da die geburtenstarken Jahrgänge der zwischen Mitte der 50er und Ende der 60er Jahre Geborenen sich allmählich in die Rente verabschieden – einem Lebensabschnitt, in dem sich viele vor allem um sich selbst kümmern und weder einer Erwerbs- noch einer Care-Arbeit nachgehen noch ein Ehrenamt ausüben.

Wenn die größten Kohorten der Gesellschaft, zusammen rund 13 Millionen Menschen, ihr Aktivitätsniveau herunterfahren, dann folgen daraus fundamentale ökonomische Verschiebungen. Vorausberechnungen für die Entwicklung der Erwerbsbevölkerung zeigen : In einem Weiter-so-Szenario schrumpft die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter um fast vier Millionen, und zwar binnen nur 15 Jahren. Eine Implosion des produktiven Potenzials. Und dabei ist bereits unterstellt, dass die Zuwanderung in etwa auf den hohen Niveaus der 2010er-Jahre bleibt.

Ganz klar: Wenn wir weitermachen wie bisher, verwandelt sich Deutschland rapide in eine Gesellschaft von Inaktiven. Hauptbeschäftigungen: Schlafen, Entspannen, Körperpflege, wie die Zeitverwendungsstudie des Statistischen Bundesamts zeigt. Damit das Land nicht wegdämmert, müssen wir radikal umsteuern. (Siehe dazu auch meine Analyse im aktuellen manager magazin)

„Mehr Freizeit“ – echt jetzt?

Insofern sollte sich eigentlich der Charakter des 1. Mai verändern. Zweifellos ist es eine gute Sache, die arbeitende Bevölkerung zu ehren – und damit auch Wertschätzung für Arbeit als solche zum Ausdruck zu bringen. Dass an diesem Tag die Gewerkschaften als Akteure im Mittelpunkt stehen, ist richtig. Je kleiner der Anteil der Arbeitenden an der Bevölkerung, desto wichtiger ist es, deren Interessen zu bündeln und kollektiv zur Geltung bringen.

Es ist nur so: In der Geschichte des Feiertags stehen traditionell Arbeitszeitverkürzungen im Fokus, zunächst der Acht-Stunden-Tag, später der arbeitsfreie Samstag, dann die 35-Stunden-Woche. Auch 2024 darf der Hinweis auf „mehr Freizeit“ nicht fehlen.

Die Rahmenbedingungen mögen sich radikal verändert haben. Doch Teile der institutionalisierten Arbeiterbewegung wirken, als seien sie in erstarrten Traditionen gefangen.

Warum sich Mehr-Arbeit nicht lohnt

Bei Licht betrachtet gibt es für alternde Gesellschaften wie die deutsche nur eine Option: mehr arbeiten – mehr Stunden pro Woche, mehr Jahre im Leben. Entsprechend sollte es am 1. Mai (und überhaupt) um die Frage gehen, wie man die Bedingungen dafür schaffen kann. Die Gewerkschaften könnten – und sollten – bei dieser Prioritätenverschiebung eine wichtige Rolle spielen.

Die Herausforderung besteht darin, die Anreize so zu setzen, dass mehr Menschen bereit sind, ihr Arbeitsvolumen auszuweiten. Dazu bedarf es verbesserter Arbeitsbedingungen, besserer Bezahlung und einer leichteren Abgabenlast, gerade für Leute mit unterdurchschnittlichen Einkommen.

Wer nur zwei Drittel des deutschen Durchschnittsverdienstes nach Hause bringt, muss von jedem zusätzlich verdienten Euro mehr als 50 Cent bei den Sozialkassen und dem Finanzamt abgeben, wie die OECD in ihrem aktuellen Report zur Besteuerung von Arbeit vorrechnet .

Hier liegt ein Grund für die hohe Teilzeitquote: Es ist vorteilhaft, einen festen Job zu haben und damit im Sozialsystem verankert zu sein. Aber es lohnt sich nicht, mehr zu arbeiten, sich fortzubilden, das Risiko eines Jobwechsels hin zu einem produktiveren Betrieb auf sich zu nehmen.

Das Abgabensystem ist in weiten Teilen leistungsfeindlich, und zwar insbesondere für einkommensschwächere Beschäftigtengruppen. Daran etwas zu ändern, wäre ein Weg, die drohende demografische Implosion abzumildern. Denn ein Anstieg der individuellen Arbeitsleistung würde helfen, den Sozialstaat zu stabilisieren.

Gesellschaft im Rückwärtsgang

Die Tradition des 1. Mai kommt aus einer anderen Zeit. Damals wuchs die Bevölkerung immer weiter. All diese Leute brauchten Jobs. Arbeitslosigkeit war eine ständige Bedrohung. Entsprechend folgten die Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen einer nachvollziehbaren Logik: Die Verteilung der Aufgaben auf mehr Köpfe sollte mehr Menschen am Produktivprozess teilhaben lassen.

Aber diese Zeiten sind vorbei, genaugenommen schon seit Langem. Dass das Erwerbspersonenpotenzial in den 2010er-Jahren noch weiter gestiegen ist, lag vor allem an der Zuwanderung. Ohne die Millionen, die auf den deutschen Arbeitsmarkt strömten, hätten wir schon um 2010 vor einer ähnlich prekären Situation gestanden wie heute. Doch fortan genügen auch hohe Zuwandererzahlen nicht mehr, um das Arbeitsangebot zu stabilisieren.

Noch kürzere Arbeitszeiten zu fordern, ist deshalb völlig aus der Zeit gefallen. Wir drohen zu einer Gesellschaft im Rückwärtsgang zu degenerieren.

Und doch: Für Defätismus besteht kein Anlass. Deutschland hat enorme Potenziale. Hiesige Beschäftigte arbeiten heute 1341 Stunden pro Jahr, der niedrigste Wert unter allen Mitgliedstaaten der OECD . Auch bezogen auf die Gesamtbevölkerung liegt die deutsche Durchschnittsarbeitszeit pro Jahr am unteren Ende der internationalen Skala, zusammen mit Frankreich, Italien und Belgien . Amerikaner, Kanadier oder Polen arbeiten im Schnitt rund 300 Stunden mehr. Würden deutsche Teilzeitkräfte ein paar Stunden mehr arbeiten und ältere Beschäftigte ein paar Jahre später in den Ruhestand gehen, ließe sich der demografische Übergang vermutlich ziemlich elegant abfedern.

Positiv betrachtet muss man sagen: Es gibt viel Luft nach oben. Machen wir was draus?

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Montag

Wiesbaden – Frust-Faktor – Das Statistische Bundesamt gibt eine erste Schätzung für die Inflationsrate im April bekannt. Zwar nähert sich die Preissteigerungsrate in Deutschland wieder dem Zielwert von zwei Prozent an. Doch der Inflationsschub seit Herbst 2021 hat die Reallöhne der Beschäftigten in Deutschland und anderswo in Europa empfindlich geschmälert. Noch sind die Verluste nicht aufgeholt.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Porsche, Morphosys, Qiagen, Philips, BBVA, NXP Semiconductors, Vivendi.

Dienstag

Luxemburg/Wiesbaden – Auf der Stelle – Das Statistische Bundesamt veröffentlicht eine vorläufige Schätzung für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im ersten Quartal. Die EU-Statistikbehörde Eurostat wartet mit den entsprechenden Zahlen für die Eurozone und die EU auf.

Duisburg – Strukturwandel, konkret – Belegschaftsversammlung beim größten deutschen Stahlhersteller Thyssenkrupp Steel. Mitarbeiter sämtlicher Standorte werden erwartet. Anlass: Die Produktionskapazitäten sollen um ein Sechstel schrumpfen und entsprechend Jobs abgebaut werden. Anmerkung: Der Staat greift dem Unternehmen bei der Umstellung auf Wasserstoffbetrieb kräftig unter die Arme, mit zwei Milliarden Euro. Fragen sind erlaubt.

Peking – Süß-sauer – Chinas amtliche Statistiker veröffentlichen den Stimmungsindikator (Einkaufsmanagerindex, PMI) für das produzierende Gewerbe.

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Volkswagen, Mercedes-Benz, Adidas, Vonovia, Lufthansa, MTU Aero Engines, Fielmann, Covestro, P7S1, Air France-KLM, Stellantis, OMV, Banco Santander, CaixaBank, Carlsberg, Glencore, Clariant, HSBC, Mondelez, Amazon, Coca-Cola, Eli Lilly, McDonald's, 3M, GE Healthcare Technologies.

Mittwoch

Hannover – "Zur Sonne, zur Freiheit" – In vielen Städten finden Veranstaltungen und Demos anlässlich des "Tags der Arbeit" statt. Die Hauptkundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) läuft in Hannover, mit DGB-Chefin Fahimi.

Washington – Zinssenkung (vorerst) abgesagt –Die US-Notenbank Fed entscheidet über ihren weiteren Kurs. Im Anschluss stellt sich Chairman Powell den Fragen von Pressevertretern. Die Hoffnungen auf baldige Zinssenkungen sind begraben, weil die Inflation nicht wie erhofft sinkt. Die Folgen dieser ausgebliebenen Zinswende nach unten, mit der nicht nur in den USA, sondern auch im Rest der Welt viele gerechnet hatten, hat globale Folgen.

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Pfizer, AIG, Qualcomm, Ebay, Mastercard, GlaxoSmithKline.

Donnerstag

Paris – Der Puls des Westens –Die OECD, die Organisation der westlich orientierten Marktdemokratien, legt ihren Frühjahrsbericht vor. Anlässlich der Bestandsaufnahme findet ein OECD-Ministerratstreffen statt (bis Freitag).

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Hugo Boss, Scout24, ING, A.P. Moller-Maersk, ArcelorMittal, Axa, Shell, Vestas, Standard Chartered, Apple, Conoco Phillips, Amgen, Universal Music.

Freitag

Frankfurt – Durchwachsene Aussichten – Der Maschinenbauverband VDMA veröffentlicht Zahlen zu den Auftragseingängen bei den Mitgliedsunternehmen.

Washington – Report Card – Die US-Regierung veröffentlicht Daten zur Arbeitsmarktentwicklung.

Berichtssaison V – Geschäftszahlen von Audi, Daimler Truck, Deutsche Wohnen, Crédit Agricole, Société Générale, Intesa Sanpaolo.