Leverkusener Wahnsinn :
Es geht immer noch verrückter

Von Daniel Theweleit, Leverkusen
Lesezeit: 4 Min.
Kaum zu glauben: Robert Andrich trifft auch gegen den VfB Stuttgart spät zum Ausgleich.
Dass Leverkusen zum 16. Mal in dieser Saison ein Tor in der Nachspielzeit gelingt, ist schon spektakulär, die beiden zurückliegenden Wochen aber erscheinen geradezu absurd. Das hat viel mit Widerstandskraft zu tun.

Auf dem Gesicht von Xabi Alonso erschien ein sehr sanftes, seltsam weise wirkendes Lächeln, als seine Leverkusener Meistermannschaft ihre nächste Wahnsinnstat vollbracht hatte. Die Welt liebt den Fußballsport bekanntlich für diese Momente, in denen das Unwahrscheinliche gelingt. In denen eine Magie spürbar wird, die niemand erklären kann, und an manchen Orten müssen die Anhänger viele Jahre auf solche Begebenheiten warten, die tief hineinfahren in die Menschen und etwas Bleibendes hinterlassen. Bei Bayer Leverkusen sind in diesem April plötzlich jede Woche unterschiedliche Ausprägungen dieser erstaunlichen Kraft erlebbar, es ist faszinierend.

Wohl auch mit diesem Hintergedanken sagte Trainer Xabi Alonso eine gute Stunde nach dem Abpfiff des atemraubenden 2:2 gegen den VfB Stuttgart, er sei „sicher“, dass an dieses Frühjahr „noch in vielen Jahren erinnert werden“ werde. Ganz besonders für den Gewinn der ersten deutschen Meisterschaft der Klubgeschichte, aber hängen bleiben wird auch etwas von dieser Neigung zur ausgeprägten Dramatik, die diesen Klub und diese Mannschaft mit voller Wucht erfasst hat.

Dass den Leverkusenern zum 16. Mal in dieser Saison ein Tor in der Nachspielzeit gelungen ist, ist für sich genommen schon spektakulär, die beiden Wochen seit dem 14. April erscheinen jedoch geradezu absurd. Es gab die Meisterparty samt zweier Platzstürme beim 5:0 gegen Werder Bremen, als die Lage völlig außer Kontrolle zu geraten drohte. Es wäre sehr menschlich und vielleicht sogar vernünftig gewesen, nach dieser Ekstase zur Besinnung zu kommen, den schönen Moment wirken zu lassen, aber nichts da: Seit es nicht mehr darum geht, den Bundesligatitel zu gewinnen, sondern nur noch darum, umgeschlagen zu bleiben, ist die Dramaturgie noch verrückter geworden.

Andrich: „Scheint kein Zufall zu sein“

Nach dem Ausgleichstor in der siebten Minute der Nachspielzeit beim BVB war Alonso noch impulsiv umhergesprungen, nach Robert Andrichs 2:2 gegen Stuttgart (90.+6) genoss er einfach nur diesen nächsten unbegreifbaren Moment. „Es scheint kein Zufall zu sein, sondern einfach nur purer Wille“, sagte Andrich, während Alonso zunehmend ratlos wirkt auf der Suche nach Erkenntnis: „Ich habe das nicht so oft im Fußball gesehen, es ist schwer zu erklären.“

Fast schien es so, als wollten alle irgendwie mithelfen bei der Konstruktion des Mythos von den Unbesiegbaren. Denn der Stuttgarter Stürmer Serhou Guirassy verpasste mehrfach die Chance, dieses Spiel für den VfB zu entscheiden, als er nach Treffern durch Chris Führich (47.) und Denis Undav (56.) beste Möglichkeiten auf ein drittes Tor (72., 87.) ungenutzt ließ. Auch Stuttgarts Pascal Stenzel trug seinen Teil bei, als er in jener denkwürdigen sechsten Minute der Nachspielzeit ohne jede Not ein Foul beging und den Leverkusenern diese Freistoßchance schenkte, die in der Folge das 2:2 möglich machte. Und das Schiedsrichterteam um den mit der Emotionalität der Partie überforderten Felix Zwayer schien den Moment ebenfalls nicht durch irgendwelche kleinlichen Regelanwendungen zerstören zu wollen.

Szene in Minute 90 + 1: Alonso hebt ab – Schick trifft zum 2:1 gegen Hoffenheim.
Szene in Minute 90 + 1: Alonso hebt ab – Schick trifft zum 2:1 gegen Hoffenheim.Huebner

Zum einen war die Nachspielzeit nach Ansicht von Sebastian Hoeneß unangemessen lang, zum anderen war der Stuttgarter Trainer der Meinung, dass „das Tor aberkannt werden“ musste. Denn bevor Andrich zum Abschluss kam, versetzte Leverkusens Victor Boniface dem zum Defensivkopfball abgesprungenen Verteidiger Anthony Rouault einen Stoß mit den Armen. Danach sprang der Ball an den Arm von Amine Adli, beide Aktionen waren diskussionswürdig. „Es geht um so viel, es ist die 96. Minute“, sagte Hoeneß, „das Mindeste ist, dass es sich angeschaut wird, das kann ich einfach nicht nachvollziehen.“

Für die Geschichte dieser Saison ist die Fortsetzung der Leverkusener Serie auf jetzt 46 Spiele ohne eine einzige Niederlage in Bundesliga, DFB-Pokal sowie Europapokal aber eigentlich eine gute Sache. Weil die Chance auf etwas wirklich Einzigartiges bestehen bleibt und weil es beeindruckend ist zu sehen, welche Widerstandskräfte nicht nur dieses Team, sondern der ganze Standort entwickelt hat. Noch vor eineinhalb Jahren war es nicht vorstellbar, dass das traditionell genügsame Leverkusener Publikum diese Art Hochenergie-Atmosphäre erzeugt, die die BayArena derzeit regelmäßig erfüllt. Das Publikum trug viel bei zum Widerstand, der nach Adlis Treffer zum 1:2 (66.) immer größer wurde und am Ende zum Ausgleich führte.

Der Zorn der Stuttgarter war zwar nachvollziehbar, aber sie können den Verlust der zwei Punkte eigentlich ganz gut verschmerzen. Ihr Vorsprung auf den Fünftplatzierten Borussia Dortmund ist auch so auf sieben Punkte angewachsen, die Qualifikation für die Champions League ist ihnen eigentlich nicht mehr zu nehmen. Aber sie konnten auch stolz sein auf die besondere Verbindung, die zu Bayer Leverkusen entstanden ist. Drei Mal hat die Werkself in dieser Saison jetzt gegen den VfB gespielt, alle drei Partien gehören zu den niveauvollsten und unterhaltsamsten Duellen, die das Spieljahr hervorbrachte.

Die Begegnungen in der Bundesliga endeten unentschieden, das Viertelfinale im DFB-Pokal war für viele Beobachter ein vorgezogenes Endspiel, Bayer 04 gewann durch ein 3:2. Durch einen Siegtreffer in der 90. Minute, wie auch sonst? „Dass wir zweimal Unentschieden spielen und einmal verlieren, wird den drei Spielen nicht gerecht“, sagte Hoeneß.

Zwar steht der FC Bayern in der Tabelle zwischen diesen beiden Teams auf dem zweiten Platz, das ändert aber nichts daran, dass Leverkusen und Stuttgart derzeit den schöneren Fußball spielen. Denn beide Klubs sind beflügelt von einer Unbeschwertheit und einem Geist der Freude am Spiel, der begeisternde Leistungen ermöglicht. „Wenn uns jemand schlägt, hätte ich gerne gesehen, dass die das ­wären“, sagte Lukas Hradecky, der sich selbstverständlich über den Punkt freute. Aber vielleicht ahnte er auch, dass sie das Glück im bevorstehenden Europa- League-Halbfinale gegen die AS Rom eigentlich noch etwas besser gebrauchen können.