Dieser Mann will vermutlich dem Krieg entfliehen: Ein Ukrainer versucht über einen Fluss ins Nachbarland Moldau zu kommen – auf einer Luftmatratze. Aber der Grenzschutz erwischt ihn. 39 Jahre alt ist er. Und fällt damit in die Altersspanne zwischen 18 und 60 Jahren, in der die meisten Männer die Ukraine nicht legal verlassen dürfen. Denn seit der russischen Invasion herrscht Kriegsrecht. Um nicht an die Front zu müssen, haben ukrainische Männer verschiedenste Taktiken entwickelt.
Alexander Kauschanski, SPIEGEL-Reporter:
»Tausende Männer sind aus dem Land geflohen, haben Beamte oder Ärzte bestochen. Und dann gibt es andere, die sich verstecken, zu Hause nur noch Taxi fahren, einander in riesigen Telegram-Gruppen davor warnen, wo gerade Wehrdienstbeamte auf der Straße unterwegs sind.«
Die Nachrichten in den Chatgruppen sind meist codiert. Die Mitglieder schreiben zum Beispiel: »An diesem Platz regnet es gerade«, wenn dort Wehrdienstbeamte mit Musterungsformularen lauern. Oder: »An jenem Ort ist es sonnig«, wenn die Luft rein ist.
Alexander Kauschanski, SPIEGEL-Reporter:
»Das Problem an der Mobilisierung ist, dass viele Männer sich Fragen stellen, auf die sie von ihrer Regierung lange keine Antworten bekommen haben. Zum Beispiel wie gut und wie lange sie ausgebildet werden, ob sie mitentscheiden können, wo sie eingesetzt werden, ob sie direkt an die Front geschickt werden, wie lange sie in der Armee dienen müssen, wann sie aus dem Militär entlassen werden.«
Auch deswegen stockt die Mobilisierung in der Ukraine. Und das, obwohl dringend frische Soldaten an der Front gebraucht werden. Nach Schätzungen sind bereits mindestens 70.000 ukrainische Soldaten gestorben. Weitere 120.000 sollen verletzt worden sein. Und viele kämpfen hier schon seit Beginn der russischen Invasion, also seit mehr als zwei Jahren.
Alexander Kauschanski, SPIEGEL-Reporter:
»Wie schwierig es ist, Menschen dazu zu bewegen, in das Militär zu gehen, sieht man unter anderem daran, dass die ukrainischen Straßen gepflastert sind mit Postern, mit Plakaten von Soldaten, die Werbung machen sollen dafür, in verschiedene Brigaden einzutreten.«
Heißt: Ausgedünnte Brigaden werben teils auf eigene Faust um neue Rekruten, weil sie das staatliche Mobilisierungssystem für dysfunktional halten. Auch dieser TV-Spot ist so eine Initiative, in diesem Fall eine der 93. Mechanisierten Brigade. Die Message: Lass den Traktor stehen, steig um in den Panzer.
TV-Spot der 93. Brigade:
»Nur Taten können für sich selbst sprechen. Trotz Angst und Vorbehalten ziehen wir nicht in den Krieg, um zu sterben. Wir haben uns entschieden, uns zu verteidigen, um in unserer Heimat zu leben.«
Die Brigaden versprechen, Männer und Frauen entsprechend ihres Berufs und ihrer Fähigkeiten einzusetzen. Und neue Rekruten nicht wahllos im Militär einzuteilen. Denn genau das tut, in den Augen vieler, das Verteidigungsministerium.
Oleksij Beschewez, Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums:
»Unsere größte Herausforderung ist Vertrauen. Leider ist es jetzt so. Zu Beginn der russischen Invasion hatten wir hier Schlangen, und jetzt sind, gelinde gesagt, keine Schlangen mehr da. An irgendeinem Punkt ging das Vertrauen verloren. Das müssen wir zurückgewinnen.«
Wie lässt sich erklären, dass der Wille, das eigene Land zu verteidigen, so stark zurückgegangen ist?
Alexander Kauschanski, SPIEGEL-Reporter:
»Die Lage an der Front ist dramatisch. Wir sehen, dass Russland immer weiter vorrückt. Und weil die Hilfen aus dem Westen so lange ausgeblieben sind, muss das Militär seine Munition rationieren. Daher muss der Staat immer härter durchgreifen, um Männer zu rekrutieren. Es gibt Videos, die auf sozialen Medien kursieren, von Männern, die gewaltsam in Vans gezerrt werden.«
Solche Videos zeigen, wie gewaltsam und repressiv einige Wehrdienstbüros inzwischen vorgehen – auch wenn längst nicht alle so agieren. Solche Aufnahmen machen allerdings schnell die Runde und verstärken den Eindruck, der Staat gehe unrechtmäßig vor.
Um mehr Soldaten rekrutieren zu können, hat das ukrainische Parlament Anfang April ein neues Mobilisierungsgesetz verabschiedet. Strafen für Kriegsdienstverweigerer wurden erhöht, das Wehrdienstalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt und ein Schutzpassus gestrichen, nach dem bestimmte chronisch Kranke teils vom Wehrdienst ausgenommen waren. Die Botschaft der Armee: Das funktioniert trotzdem alles.
Serhij, Rekrut:
»Ich habe Asthma und galt daher als teilweise befreit. Aber ich habe hier meine körperliche Leistungsfähigkeit verbessert, ich laufe 18 Kilometer, trainiere täglich, und seitdem weiß ich, dass ich zu den Besten gehöre. Letzte Woche war ich Vierter. Daher weiß ich, dass ich zu allem bereit bin.«
Viele potenzielle Rekruten schreckt vor allem ab, dass ein bestimmter Passus aus dem lange im Parlament diskutierten Mobilisierungsgesetz gestrichen wurde: die Entlassung aus dem Militär nach 36 Monaten. Unter dem neuen Gesetz ist also offen, wie lange der Militärdienst dauert.
Alexander Kauschanski, SPIEGEL-Reporter:
»Es gibt aber auch Männer, die sich damit abgefunden haben, irgendwann in die Armee eingezogen zu werden. Ich habe mit einem Ukrainer gesprochen, dessen guter Freund an der Front gestorben ist. Er hat mir gesagt, dass er nicht möchte, dass sein Freund sinnlos in diesem Krieg gestorben ist, und dass er weiß, dass er in Kiew nur in seinem Lieblingscafé sitzen kann und nicht unter einer totalitären russischen Besatzung lebt, weil es diese Menschen gibt, die um das Überleben der Ukraine kämpfen.«
Auch die neuen Rekruten haben in der Regel zumindest eine Ahnung davon, worauf sie sich einlassen.
Serhij, Rekrut:
»Meine Mutter hat lange geweint, als ich hier angefangen habe. Aber jetzt ist alles in Ordnung, alle unterstützen meine Entscheidung und freuen sich für mich. Ich hoffe, dass ich am Leben und gesund bleibe, und dass ich meine Beine und Arme behalte. Ich weiß, dass Krieg eine sehr, sehr brutale Angelegenheit ist.«